Buchtipp vom

Robert Seethaler: „Ein ganzes Leben“

„Mit einem abgerissenen Lachen und einem einzigen großen Staunen“. Vom Leben und Sterben eines einfachen Mannes
Seethaler Leben

Es sind berührende und faszinierende Szenen in dem neuen, dem großartigen und mitreißenden Roman „Ein ganzes Leben" des österreichischen Autors Robert Seethaler. Ein Buch, in dem er vom einfachen Leben des Andreas Egger erzählt. Eine Lebensgeschichte, die „mit einem abgerissenen Lachen und einem einzigen, großen Staunen" endet.

In seiner Todesstunde konnte sich Egger nicht mehr erinnern, „wo er hergekommen war, und letztendlich wusste er nicht, wohin er gehen würde. Doch auf die Zeit dazwischen, auf sein Leben, konnte er ohne Bedauern zurückblicken...."

Von diesem Leben erzählt Robert Seethaler. Und er tut dies auf eine so wunderbare Weise,
mit nahezu unvergesslichen Bildern, mit Sätzen, die unter die Haut gehen und den Leser auf unerhörte Weise die Geschichte eines ganzen, etwa 80-jährigen Lebens mit hinein nehmen.

Es war ein karges Leben, das den Andreas Egger nach dem frühen Tod seiner Mutter erwartet. Abgeschoben aufs Land, seinem Onkel Kranzstocker „anvertraut", der ihn zum Knecht und zum Krüppel prügelt. Er wird zum Krüppel des Dorfes. Er wird sein Leben lang hinken. Er bleibt für sich – und bei sich. „Er dachte langsam und ging langsam, doch jeder Gedanke, jedes Wort, jeder Schritt hinterließen ihre Spuren, und zwar genau da, wo solche Spuren seiner Meinung nach hingehörten".

Nachdem er Kranzstocker verlassen hat, wird Egger Seilbahnarbeiter. Er bohrt Sprenglöcher, oft unter Einsatz seines Lebens und wird später die Seilbahn warten. Ein karges Leben, aber er hat sein kleines Einkommen. Mehr braucht dieser bescheidene Mensch nicht. Er ist glücklich in der Natur, in seinen Bergen – und mit sich im Reinen.

Nahezu schwerelos beschreibt Robert Seethaler das Leben seines Helden: mit eindrucksvollen und einprägsamen Sätzen, lakonisch, fast ein wenig altmodisch-einfach. Nie gerät Seethaler in die Gefahr, ins Kitschige abzugleiten. Und es ist das Einfache, das so schwer ist und deshalb dieses Buch zur großen Kunst macht. Seethalers Können wird immer wieder deutlich in der Beschreibung von Eggers Charakter, von seiner beinahe leidenschaftslosen Zustimmung zu diesem Leben, von seinem nachdenklichen Schweigen. Ein Können, das Seethaler schon in seinen früheren Büchern – zum Beispiel im Roman „Der Trafikant" – unter Beweis gestellt hat. In „Ein ganzes Leben", geschildert auf knappen hundertundfünfzig Seiten, übertrifft er sich noch.

War Eggers vielleicht gar ein glücklicher Mensch? Der Leser wird es bejahen wollen. Auch weil Andreas Egger sich auf so zarte Weise in Marie verliebt. Nach einer außergewöhnlichen Liebeserklärung, er „schreibt" mit brennenden Petroleumsäckchen „Für dich, Marie" in den Berg, wird sie seine Frau. Sie teilt seine Liebe, seine Einsamkeit und sein einfaches Leben bis ein schreckliches Unglück Marie von seiner Seite reißt.

Wir schreiben das 20. Jahrhundert. Mit dem Bau der Seilbahn, mit wachsendem Tourismus im Tal und mit Ausbruch des Krieges verändert sich das Leben ständig. Auch Eggers Leben. Er wird eingezogen, erlebt den Krieg im fernen Russland aber eher von außen. Er gerät in Gefangenschaft, kehrt nach acht Jahren wieder in sein Tal zurück, nimmt seine Arbeit wieder auf. Jetzt als Touristenführer. Und er bleibt einsam, ein Einzelgänger. Er braucht niemanden – nicht Gott und nicht die Menschen. Denn „Jeder hinkt für sich allein" lässt er einmal wissen.

Und so erzählt Seethaler vom Leben und Sterben eines einfachen Mannes. Eine der schönsten und auf ihre Art ergreifendsten Szene ist der Tod des Andreas Egger, der „in einer Nacht im Februar starb... bei sich zu Hause, an seinem Tisch.... Er spürte einen hellen Schmerz in der Brust... Er hörte sein eigenes Herz. Und er lauschte der Stille, als es zu schlagen aufhörte. Geduldig wartete er auf den nächsten Herzschlag. Und als keiner mehr kam, ließ er los und starb."

Der Leser bleibt traurig und ein wenig gerührt zurück – mit einem Lächeln und „einem einzigen großen Staunen".

© Günter Nawe

Robert Seethaler: „Ein ganzes Leben“
Hanser Berlin, 154 S., 17,90 €

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