Buchtipp vom

Pat Barker: „Tobys Zimmer“

"Vermisst, vermutlich tot" - Der großartige Antikriegsroman von Pat Barker
Barker Tobys Zimmer

Alle Welt begeht zurzeit das sogenannte Weltkriegsjubiläum und befasst sich mit der Geschichte, mit den Folgen und den Auswirkungen des Ersten Weltkriegs, dieser Jahrhundertkatastrophe. Und so erscheinen Sachbücher, Essays und viele Romanen und Erzählungen, die sich dieses Themas annehmen. Aus der Fülle der Veröffentlichungen haben wir „Tobys Zimmer" der britischen Autorin Pat Barker als „Unser Buch des Monats Mai" gewählt.

Dieser Roman ist 2012 erschienen und liegt nun endlich in deutscher Sprache vor. Pat Barker gehört zu den brillantesten und mehrfach ausgezeichneten britischen Schriftstellerinnen, deren Bücher es allemal wert sind, auch bei uns gelesen zu werden. Leider gibt es ihre Romane „Niemandsland", „Die Straße der Geister", „Das Auge in der Tür" und „Das Gegenbild" nur noch antiquarisch. Und es wäre mehr als wünschenswert, wenn mit „Tobys Zimmer" ein Anfang gemacht wäre, die Bücher dieser Autorin, einer studierten Historikerin, den deutschen Lesern wieder zugänglich zu machen.

Warum? Einfach, weil wir es hier mit einer großartigen Schriftstellerin zu tun haben – und mit „Tobys Zimmer" mit einem Meisterwerk. Der Erste Weltkrieg ist – wie es irgendwo zu lesen war – „ihre Obsession" gewesen. Pat Barkers Romane, wie zum Beispiel die „Regeneration Trilogy" aus den 90er Jahren, sind allerdings keine Schlachtengemälde, keine Kriegsbücher im herkömmlichen Sinne. In ihnen gibt es keine Helden, sondern eigentlich nur Verlierer. So sind diese Bücher eher Antikriegsromane, wie einst Erich Maria Remarques „Im Westen nichts Neues" einer war. Und sie befassen sich vorwiegend mit den Kriegserfahrungen, den Schäden und den Auswirkungen der Katastrophe, die die Protagonisten in diesem Roman durch den Krieg direkt oder indirekt an Leib und Seele erleiden müssen.

In „Tobys Zimmer" – der Titel dieses Romans ist ein kleiner Verweis auf Virginia Woolfs Roman „Jacobs Zimmer" – geht es sowohl um reale als auch um fiktive Ereignisse, denen Elinor Brooke, Kit Neville und Paul Nash in den Zeiten des Krieges, in den Jahren 1912 bis 1917, ausgesetzt sind. Diese drei Hauptfiguren sind nicht nur verbunden durch Liebe, durch Freundschaft, sondern auch und durch Toby Brooke, Elinors Bruder, und nicht zuletzt durch die Erfahrungen eines grausamen Krieges, von denen jeder auf seine Weise betroffen ist.

Toby und Elinor, Bruder und Schwester – sie verbindet ein fast symbiotisches Verhältnis – und eine gemeinsame Nacht in Tobys Zimmer. Ein Geheimnis, das vor allem Elinor dauerhaft belastet.Während Elinor später in London Kunst studiert, muss Toby in den Krieg, in die Schützengräben Frankreichs. 1917 wird der Schwester dann mitgeteilt, dass Toby "Vermisst, vermutlich gefallen" ist.

Vom Verlust des Bruders und vom Einfluss, den die Schrecken des Krieges auf die Menschen und die Kunst haben – davon handelt der Roman. Ihrer tiefen Trauer – „Nachts schlief sie in Tobys Zimmer. Das Malen betäubte den Schmerz; sonst nichts." - setzt Elinor später die Beschäftigung als Assistentin ihres früheren Professors, der zugleich Künstler und Chirurg ist, entgegen. Er dokumentiert zeichnerisch die zerstörten Gesichter von Soldaten. Und kreiert so etwas wie eine besondere Kunstauffassung, in der Schönheit und Verunstaltung zu einer Einheit werden. Eigentlich aber will Elinor in erster Linie Aufschluss über den Tod ihres geliebten Bruders erhalten. Die lakonische Nachricht „Vermisst, vermutlich gefallen" genügt ihr nicht.

Helfen sollen ihr bei der Aufklärung der Umstände, unter denen ihr geliebter Bruder gefallen ist, die beiden ehemaligen Kommilitonen. Beide waren mit Toby befreundet und an der Front, zu beiden besteht von Seiten Elinors ein besonderes, teilweise intimes Verhältnis. Und beide wissen vermutlich mehr über Tobys Tod, als sie der trauernden Schwester gegenüber preisgeben wollen.

Paul Nash ist das Bein zerschossen worden, Kit Neville das halbe Gesicht. Kit liegt in der Spezialklinik für vom Krieg traumatisierte und verletzte Soldaten, „junge Männer mit ausgehöhlten Augen, weggesprengten Kiefern und klaffenden Löchern, wo ihre Nasen einst waren, hier auf engstem Raum, um zusammengeflickt und mit dem, was die Chirurgen zustande gebracht haben, entlassen zu werden.", Menschen also, denen durch plastische Chirurgie geholfen werden soll. Das ist Grauen pur.

Hier also trifft Elinor auch den verwundeten Kit wieder, den einzigen Zeugen von Tobys Tod. Die Klinik, der Künstler als Arzt – Pat Barker bezieht sich auf wirkliches Geschehen, Orte und reale Personen. Und genau das macht ihre Schilderung so beeindruckend.

Mit feinem psychologischem Gespür beschreibt die Autorin die Begegnung Elinors mit den ehemaligen Freunden und Kommilitonen, mit ihren körperlichen und seelischen Folgen des Krieges. Für Elinor allerdings stellt der ungeklärte Tod des Bruders eine besondere Belastung dar, der sie am Ende auch durch die Beschäftigung in der Klinik Herr zu werden versucht.

Dank der großen Erzählkunst wird der Leser vom ersten Satz an („Elinor kam am Freitag um vier nach Hause und ging sofort auf ihr Zimmer ...") in den Bann der Geschichte gezogen - und bis zur letzten Zeile („...und im flüchtigen Bewusstsein, dass sie Tobys Zimmer zum letzten Mal verließ...") nicht mehr losgelassen. Und die Bilder des Schreckens, die Pat Barker beschreibt, werden in seinem Kopf bleiben.

© Günter Nawe

Pat Barker: „Tobys Zimmer“
Dörlemann Verlag, 400 S., 23,90 €

Barker Tobys Zimmer

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