Buchtipp vom

Bachtyar Ali

Mein Onkel, den der Wind mitnahm

Ein schmaler Roman: eine gute Gelegenheit für den barrierefreien Einstieg in das Werk eines noch
wenig bekannten Romanciers. Und den Ort seiner Herkunft und Schauplatz seiner Erzählungen
kennenzulernen: Kurdistan. Genauer: den Norden des Irak, der spätestens seit 2005 als Autonome
Region Kurdistan Selbständigkeit besitzt.
Bachtyar Ali wurde dort 1966 geboren, lebt aber seit vielen Jahren in Deutschland. Seine Romane
hat er in der südkurdischen Sprache Sorani geschrieben. Erst seit 2016 sorgt der Unionsverlag für
die Veröffentlichung auf Deutsch.
Mein Onkel, den der Wind wegtrug ist eine leichte und vergnügliche Lektüre – trotz der ernsten
Themen, um die es geht. Das schafft Bachtyar Ali, denn er ist „ein mit allen literarischen Wassern
gewaschener“ Autor (T. Spreckelsen in der FAZ 162/2016).
Der tragikomische Held, der tatsächlich in die Luft steigt, ist ein Onkel des Erzählers Salar,
allerdings nur 3 Jahre älter. Ein schillernder Charakter, den vielleicht auch sein Name Djamschid
Khan andeutet: der Vorname eines populären Helden der iranischen Mythologie mit dem
ehrenvollen Beinamen einer wohlhabenden Großfamilie.
Was ihm widerfährt ist (im Wortsinn) ein Flug durch die Geschichte Kurdistans seit 1979, dem
Beginn des Krieges zwischen Irak und Iran. Als Opfer einer Diktatur wird er gefoltert und verliert
an Körpergewicht. Sein Neffe Salar muss ihn an einem Seil führen, damit der Wind ihn nicht
fortreißt. Gemeinsam erleben sie einige Abenteuer, die in kurzen Episoden schildern, wie die
kurdische Gesellschaft lebt und welche Konflikte sie als Minderheit auszustehen hat.
Eines Tages flüchten beide nach Istanbul und steigen dort in das Geschäft der Schlepper ein. Sie
führen Migranten nach Europa und verdienen viel Geld. Eine von vielen wundersamen Wandlungen
zeigt den Onkel später als fragwürdigen Online-Journalisten, der zurück in seiner Heimat nicht nur
korrupte Politiker erpresst.
Ein Märchen? Nur im Aspekt des Fliegens und der damit verbundenen Abstürze Djamschids, die
bewirken, dass „neue Leidenschaften und Träume“ in ihm erwachen. Das lässt sich symbolisch
lesen - die Besonderheit des Textes sind aber pointierte Szenen einer lebendigen Realität.
Wie ein Autor diese erschaffen kann, auch davon erzählt dieses Buch: denn Salar kämpft mit seinem
Plan, das flüchtige Leben des Onkels in einer Schrift festzuhalten. Dessen Publizistik verachtet er:
„Mische einen Löffel gescheiterter Autoren mit einem Löffel schlechter Politiker in einem Topf
Wasser, verrühre alles ordentlich, gib dann einige Teelöffel Mullah-Geschwätz dazu und koch die
Brühe gut auf. Dann hast du das Gebräu, das man in unserem Land hochkarätigen Journalismus
nennt.“ Aber persönlich gilt: „Großer Khan, du mein einziger Held der Reinheit inmitten des
Schmutzes dieser Welt.“
Bachtyar Alis Rezept gegen die Schrecken der Wirklichkeit sind Utopien, die in die Erzählungen
hineinwirken, besonders in den großen seitenstarken Romanen. Auch hier verschwinden die
Protagonisten oder gelangen an Orte, wo ein Weiterleben möglich ist, wenigstens in der Poesie.

Am 06.09.2021 stellt Bachtyar Ali selbst sein Buch im Literaturhaus Köln vor.


Weitere Romane:
Der letzte Granatapfel (2002; Deutsch 2016).
Die Stadt der weißen Musiker (2017).
Perwanas Abend (2019).

Mein Onkel, den der Wind mitnahm.
Unionsverlag 2021. Gebunden; €20,-.

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