Buchtipp vom

Ljudmila Ulitzkaja: „Das grüne Zelt“

Leben und Lieben in Unfreiheit: Ljudmila Ulitzkaja hat einen großartigen Roman geschrieben
Ulitzkaja Zelt
Ljudmila Ulitzkaja: „Das grüne Zelt“
Hanser Verlag
589 S., 24,90 €

Wer die derzeitigen Entwicklungen in Putins Russland verfolgt, sieht sich einer stalin-nostalgischen Bewegung gegenüber. Plötzlich ist wieder von einer „ruhmreichen Vergangenheit“ die Rede. Und das Grauen hat kein Ende.

Wie diese „ruhmreiche Vergangenheit“ ausgesehen hat, schildert die große russische Autorin Ljudmila Ulitzkaja in ihrem brillanten Roman „Das grüne Zelt“. Dieses Buch ist nicht nur eine Warnung vor dieser Entwicklung zurück zur Stalinzeit, also ein brisanter politischer Roman; das Buch ist auch von einer literarischen Qualität, wie wir sie selten erleben dürfen. Auf diese Weise vermittelt es dem Leser mehr von dieser Zeit, als es Geschichtsbücher könnten.

„Die Literatur ist das Einzige, was dem Menschen hilft, zu überleben, sich mit seiner Zeit zu versöhnen.“ Davon ist der Lehrer Viktor Juljewitsch Schengeli überzeugt – und auch davon, dass, wer Tolstoi und Puschkin zu lesen versteht, den Unannehmlichkeiten und Anforderungen des Lebens erfolgreich begegnen kann. Diese Überzeugung versucht er, seinen Schülern, dem Juden  Micha, dem sanften Sanja und dem dürren Ilja, weiterzugeben. Er wird sie zu Menschen „erziehen“, die gelernt haben, frei zu denken und danach zu handeln – Irrtümer und Verfehlungen eingeschlossen.

Ljudmila Ulitzkaja beschreibt die  Freundschaft ihrer drei Protagonisten, die ein Leben lang halten sollte. Und sie beschreibt sie vor dem Hintergrund der Zeitgeschichte in einem Land, das  „sein eigenes irrwitziges Leben führt“ – also der stalinistischen Ära, die mit dem Tode des Diktators 1953 noch längst nicht ihr Ende gefunden hat, sondern Nachwirkungen bis in die 90er Jahre zeigt. In dieser Zeit spielt der Roman, der auf höchst subtile Weise die  politischen und gesellschaftlichen Gegebenheiten und die Mechanismen der Macht darstellt, denen sich die Menschen ausgesetzt sehen - mit all den Abscheulichkeiten, mit Enttäuschungen und Entbehrungen. Sich darin zurechtzufinden, aber auch dagegen aufzubegehren, ist Sache der jungen Menschen.

Das führt zwangsläufig zum Dissidententum. So wird Ilja als Fotograf zum Dokumentaristen des Untergrunds, Micha, seines Zeichens Literaturwissenschaftler und Dichter, sitzt häufig im Gefängnis. Und Sanja, hochbegabter Musiker, kann wegen einer ihm zugefügten Verletzung nicht mehr Klavierspielen. Es sind sanftmütige Menschen, mutig und musisch. Sie sind auch keine Helden im klassischen Sinne und deshalb nicht immer heldenhaft. Der eine und andere scheitert – als Mitwisser, als Feigling, als Verräter.

Unterstützt werden die jungen Männer von ihren klugen und begabten Freundinnen Olga, Tamara und Galja, denen sie in großer Liebe verbunden sind. Olga, eine bedeutende Figur und eine alles in allem starke Frau in diesem Roman, tippt verbotene Manuskripte ab, die dann vervielfältig werden. Es schlägt die Geburtsstunde des Untergrundverlags „Samisdat“. Olga  wird später mit der Enttäuschung fertig werden müssen, dass ihr geliebter Mann Ilja mit dem KGB zusammenarbeitet, sie verläßt und emigriert. Sie erkrankt an Krebs, wird religiös und zerbricht am Ende. Tamara ist  nicht nur schön und unabhängig, sie ist auch etwas mystisch veranlagt. Und Galja, die so gern ein Kind haben möchte, muss erleben, dass ihr Mann sich als Spitzel betätigt.

Ihre Geschichte und ihre Geschichten erzählt Ljudmila Ulitzkaja. Und sie stehen alle auch in Zusammenhang mit realen Figuren dieser Zeit in der Sowjetunion. So treten in Nebenrollen auf: Andrej Sacharow, der Dichter Josef Brodsky und der Schriftsteller Andrej Sinjawski. Und letztlich bringt Ljudmila Ulitzkaja auch ihre eigenen Erfahrungen ein. Die Autorin, 1945 geboren, entstammt einer jüdischen Familie, hatte unter antisemitischen Anfeindungen zu leiden und erlebte das diktatorische System hautnah. So ist sie als Autorin mit ihren Büchern „Maschas Glück“, „Ergebenst, eurer Schurik“, mit „Daniel Stein“ und nicht zuletzt mit dem neuen Roman „Das grüne Zelt“ zur „Stimme Russlands“ geworden.

Dieser Roman also handelt von Politik und Gesellschaft, von Musik und Literatur und vom Leben und Lieben in Zeiten der Unfreiheit. Alles kommt zusammen unter einem „grünen Zelt“, von dem Olga einst geträumt hat. Höchst Privates steht neben Öffentlichem, und die erzählten Geschichten werden zur Geschichte einer aufregenden, einer furchtbaren Epoche.

© Günter Nawe

Ljudmila Ulitzkaja: „Das grüne Zelt“
Carl Hanser Verlag, 589 S., 24,90 €

Ljudmila Ulitzkaja: „Das grüne Zelt“
Hanser Verlag, 589 S., 24,90 €

Ulitzkaja Zelt

zurück