Buchtipp vom

Jacques de Lacretelle: „Silbermann“

„Weil ich Jude bin“ – Die Geschichte einer außergewöhnlichen Schülerfreundschaft
Lacretelle Silbermann
Jacques de Lacretelle: „Silbermann“
Lilienfeld Verlag
19,90 €

Schülererzählungen und -romane, Internatsgeschichten - wir kennen aus der Literatur hervorragende Beispiele: Hermann Hesses „Unterm Rad", „Der Schüler Gerber" von Friedrich Torberg und Robert Musils „Die Verwirrungen des Zöglings Törleß". Und es gibt noch viele dieser Art.

Eine neue können wir jetzt kennenlernen. Erst jetzt, neunzig Jahre nach seinem Erscheinen, überrascht uns ein kleiner Roman, der alles Bekannte dieses Genres in den Schatten stellt. Eine Entdeckung also.

Ihr Autor heißt Jacques de Lacretelle (1888-1985). Für „Silbermann", seinen ersten und letztlich besten Roman, der 1922 erschienen ist, wurde er mit dem „Prix Femina" ausgezeichnet. De Lacretelle wurde Mitglied der „Académie francaise" und blieb dies 48 Jahre lang. Viele Bücher hat de Lacretelle geschrieben - „Silbermann" ist jedoch sein Hauptwerk.

In seinem Roman geht es um eine Schülerfreundschaft, es geht um Antisemitismus und die zumindest am Anfang des letzten Jahrhunderts wenig geglückte Integration der Juden in die französische Gesellschaft.. Schwierige Themen, die durch die Ich-Erzählung eines der Protagonisten uns, dem Leser, auf eine faszinierende Weise nahegebracht werden.

Aus anfänglicher Hänselei wird tiefe Feindschaft, der sich David Silbermann, Schüler der 3. Klasse des großen Lycée, ausgesetzt sieht. In einem Klima antisemitischer und rassistischer Vorurteile konzentrieren sich die Mitschüler darauf, Silbermann auzugrenzen, zu verprügeln. Er wird gequält mit all den Grausamkeiten, die sich der Antisemitismus seit jeher hat einfallen lassen.

Die Schule, die Mitschüler allerdings sind lediglich ein Spiegelbild dessen, was latent in der französischen Gesellschaft zu Beginn des 20. Jahrhundert, ein unseliges „Erbe" der Dreyfuss-Geschichte, vorgegeben ist.

Kommt hinzu, dass Silbermann alle Vorurteile über Juden in seiner Art, in seine Wesen zu verkörpern scheint. Er ist intelligent und von hochfahrender intellektueller Arroganz, die sich aus seinen hervorragenden Kenntnissen der Literatur, vorwiegend der französischen Literatur, speist. Silbermann ist ist als Sohn eines assimilierten protestantische Richters reich, er lebt sein Außenseitertum, gibt sich bewusst wehrlos, provoziert so und weist in seinem Aussehen Merkmale aus, die Juden vermeintlich auszeichnen.

Ein anderer Schüler, der Ich-Erzähler, ist der einzige, der sich auf die Seite Silbermanns schlägt, ihn in Schutz nimmt und Verständnis für diesen „Außenseiter" hat. Spätestens in dem Augenblick, als David ihm erklärt, warum ist, wie es ist: „Weil ich Jude bin.".
Stammt der Erzähler doch von den Hugenotten ab, die selbst Verfolgung und Ausgrenzung erlebt haben. Sein Einstehen für den jüdischen Mitschüler zwingt ihn zu Entscheidungen gegen andere Mitschüler, gegen Freunde. Auch gegen seine Familie. Und: er fühlt sich gut in dieser Rolle, nicht nur um der Sache willen, sondern vor allem seiner Selbtsverliebtheit willen.

So zeigt sich in diesem schmalen Band, in dieser Erzählung auch sehr deutlich:
Antisemitismus und Philosemitismus haben mehr miteinander zu tun, als uns gemeinhin klar ist. Eine wichtige Erkenntnis, die de Lacretelle gleichsam en passant vermittelt.

Irgendwann gibt Silbermann auf. Er geht sehr unfreiwillig von der Schule ab, er entsagt seinen intellektuellen Ambitionen und wandert nach Amerika aus. Er wird Diamantenhändler und damit den Voruteilen gerecht, die Juden zugeschrieben werden. David Silbermann erfüllt ssozusagen ein jüdisches Schicksal und begehrt gleichzeitig dagegen dagegen auf, in dem er auf die Verfehlungen vieler Mitglieder der französischen Gesellschaft verweist.

Was sich hier literarisch als einfache, allerdings brillant erzählte Geschichte zeigt, ist eine großartige psychologische Studie: mehrdimensional, spannungsgeladen und durch den Sprachduktur von große Authentizität.

Damit erklärt sich auch die Bestürzung, die der Leser erfährt. Bestürzung über das, was Hannah Ahrendt einmal die „Banalität des Bösen" genannt hat. Und der „Schoß" ist fruchtbar immer noch.

© Günter Nawe

Jacques de Lacretelle: „Silbermann“
Lilienfeld Verlag, 19,90 €

Jacques de Lacretelle: „Silbermann“
Lilienfeld Verlag, 19,90 €

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