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"Ein Doppelgänger" - ein bedeutendes Spätwerk: Vor 200 Jahren wurde Theodor Storm geboren

Storm Doppelgänger

„In der Mitternachtsstunde zwischen dem 14. und 15. September 1817 war ein stark Gewitter über Husum …trotzdem lag irgendwo… Joh. Kasimir Storm in seiner Angst …. denn sein schönes Weib lag daheim in Geburtsschmerzen… Das war meine Geburtsstunde.“ So ist es bei Theodor Storm zu lesen. Das war vor zweihundert Jahren. Aus dem Kind von damals ist einer der größten deutschen Schriftsteller geworden. Er hat Husum, „Du graue Stadt am Meer“ - wie es in einem seiner berühmtesten Gedichte heißt - zu einem unvergesslichen literarischen Topos gemacht.

Und nicht nur das: Theodor Storm hat - wie es Thomas Mann so treffend formulierte - „die Novellen des neunzehnten Jahrhunderts auf einen höchsten Stand ihres Anspruchs und ihrer Vollendung“ gebracht. Eine Qualität, die nichts mit Husumerei (Theodor Fontane) oder Wimpelei und Winkeldumpfigkeit (Thomas Mann) zu tun hat. Jochen Missfeldt schreibt in seiner großartigen Biografie Du graue Stadt am Meer - Der Dichter in seinem Jahrhundert über Storm: „Mit seiner Lyrik ist er ein Meistersänger seines Jahrhunderts, mit seiner Erzählkunst ein Wegbereiter der Moderne“. Gerd Eversberg wiederum (Theodor Storm: Künstler-Jurist-Bürger) nennt in seiner neuen Biografie den Dichter einen der „bedeutendsten Erzähler des 19. Jahrhunderts“.

Der Dichter, der Erzähler - er zählt auch nach zweihundert Jahren nicht zu den Vergessenen. Storm war immer Liebling des Lesepublikums - und ist es bis heute geblieben.

So ist es nur angemessen und zugleich ein höchstes Vergnügen, sich aus Anlass des Gedenktages der einen oder anderen Novelle des Husumer Autors zu erinnern. Zum Beispiel an Der Schimmelreiter, den Theodor Storm wenige Wochen vor seinem Tode am 4. Juli 1888 vollendet hat. In seiner wohl bekanntesten Novelle erzählt der Autor die eindrucksvolle und tragische Lebensgeschichte des Schulmeisters Hauke Haien.

Oder Immensee (1849), die Geschichte einer Kinder- und Jugendliebe. Und: In Pole Poppenspäler versetzt der Dichter den Leser in eine Zeit des Kinderglücks zurück. Über dieser Novelle liegt ein eigenartiger Zauber, der diese kleine, meisterhafte Geschichte bis heute lesenswert macht. Das gilt auch für die märchenhafte Geschichte vom Kleinen Häwelmann, der sich aus seinem Nachthemd ein Segel baut und auf dem Strahl des Mondes bis ans Ende der Welt reist, mitten durch die Sterne und über die Nase des Mondes - bis die Sonne aufgeht und ihn ins Meer wirft.

Eine weniger bekannte Novelle, ein Jahr vor Theodor Storms Tode erschienen, ist Ein Doppelgänger. Ein Bekenntnis. In ihr, dem Spätwerk des großen Autors, zeigt sich noch einmal die ganze Meisterschaft ihres Schöpfers. Formal gesehen handelt es sich um eine Binnenerzählung, eine Erzählung in der Erzählung - wie viele andere Novellen. Inhaltlich weist Ein Doppelgänger jedoch einen entscheidenden Unterschied zu den früheren Arbeiten Storms auf: Zum ersten Male steht ein Arbeiter im Mittelpunkt der Erzählung. Das macht diese Novelle so besonders und - für die Zeit am Ausgang des 19. Jahrhunderts - so modern.

Ein junger Mann aus Norddeutschland, der Ich-Erzähler, ist auf einer Reise in den Süden des Landes. Er lernt einen Oberförster kennen, freundet sich mit ihm an und wird sein Gast. Bald stellt er fest: er und die Frau des Försters kommen aus derselben Stadt. Und er kennt die wahre Geschichte der jungen Frau.

Christine entstammt den unteren Schichten. Ihr Vater war ein Zuchthäusler, was dem Kind verheimlicht wurde. Sechs Jahre hat John Hansen im Gefängnis in Glückstadt gesessen. Nach Verbüßung seiner Strafe wollte er ein ehrlicher Mensch werden. Doch er war und blieb in seiner Heimat ein Verfemter. Nur Hanna akzeptiert ihn. Er verliebt sich in sie, eine Arbeiterin. Sie bekommen eine Tochter - Christine, die in John einen liebevollen Vater hat. Erst später soll sie erfahren, dass sie eigentlich zwei Väter hat, den Zuchthäusler und den um sie besorgten und sorgenden Vater.

Doch John gelingt nichts, was ihn aus seiner Armut herausbringt.  Nicht zuletzt, weil ihn die Gesellschaft schneidet und immer noch für einen Verbrecher hält. An dieser Stelle thematisiert Theodor Storm gesellschafts- und sozialkritische Aspekte. Die Stigmatisierung des Außenseiters in einer in sich geschlossenen Gesellschaft bestimmt das traurige Schicksal Johns. Man könnte von einem psychologischen Realismus sprechen. Die Novelle ist jedenfalls höchst authentisch und jenseits aller Winkeldumpfigkeit.

John gerät zunehmend mehr in eine ausweglose Lage. Es kommt zum Streit zwischen den Eheleuten. Dabei stürzt Hanna so unglücklich, dass sie stirbt. Schnell wird John verantwortlich für den Tod seiner Frau gemacht. Geächtet, arbeitslos, äußerste Not leidend beschließt John, um wenigstens seinem hungernden Kinde zu helfen, zu stehlen. Dabei stürzt er in einen ungesicherten Brunnen.

Soweit die Erzählung dieser traurigen Geschichte. Der Gast hat sie dem Oberförster erzählt - und der wiederum seiner Frau. So erfährt Christine erstmals vom Doppelgängertum ihres Vaters. Und erhält so ein realistisches Bild von John Hansen. Was für ihren Vater ein verhängnisvolles Schicksal war, wurde ihr - dank der Heirat mit dem Oberförster - zu einem glücklichen Zufall. Als wollte die Gesellschaft an ihr etwas gut machen.

In einer sehr schönen Ausgabe ist die Novelle Ein Doppelgänger, illustriert von Julie Völk, jetzt in der Insel-Bücherei erschienen - und kann wärmstens empfohlen werden.

© Günter Nawe

Theodor Storm, Ein Doppelgänger. Illustriert von Julie Völk. Insel Bücherei, 92 S., 16,- €

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