Buchtipp vom

Die drei verschiedenen Männer in mir: Walter Benjamins denkerisches Leben und sein frühes Ende

Jäger Benjamin

Portbou, 26. September 1940 - Walter Benjamin, exzessiver Denker, Philosoph, Kulturkritiker und brillanter Schriftsteller nimmt sich auf der Flucht vor den Nazis im katalanischen Grenzort im Alter von 48 Jahren das Leben - ein Leben, das als „unvollendet“ zu bezeichnen ist, mit Höhen und noch mehr Tiefen. Benjamin war an einem Punkt angelangt, „wo man sich fragen kann: wie hätte er überhaupt noch weitermachen können?“ (Lorenz Jäger)

Es ist nicht die erste Biographie, die sich des Lebens und Denkens dieses außergewöhnlichen Intellektuellen annimmt. Biographisch ist deshalb nichts wesentlich Neues zu erwarten. Dennoch: Diesem Leben nähert sich Lorenz Jäger in seiner Biographie Walter Benjamin: Das Leben eines Unvollendeten auf interessante Weise. Jäger, Germanist und ehemaliger Redakteur im Ressort Geisteswissenschaften der FAZ, hat bereits 2003 eine bedeutende politische Biographie über den Benjamin-Freund Theodor Adorno, der Benjamin ebenso wie Kracauer als Genies bewunderte, vorgelegt. Umso spannender ist die jetzige Jäger’sche Arbeit über den Adorno-Freund. Beide sind oft genug „zusammengedacht“ worden - und werden es teilweise auch heute noch.

Walter Benjamin: Lorenz Jäger erzählt das Leben dieses philosophischen Denkers als mehr oder weniger interpretierende Biographie. Beginnend mit Benjamins Märchen vom verbotenen Zimmer, in das das Mädchen nicht darf. Alle Räume stehen ihm offen, nur dieses nicht: Geheimnisvoll, rätselhaft, mystisch. So wird auch das Leben und Denken Benjamins in der Biographie von Lorenz Jäger zu lesen sein: geheimnisvoll, teilweise rätselhaft und mystisch.

Ausgehend von diesem Kindheitsmärchen schildert Jäger die Stationen im Leben des Philosophen, des Denkers und Kulturkritikers - immer in Zusammenhang mit seiner geistigen Entwicklung, in Zusammenhang mit seinen Schriften. Er erzählt von den Menschen, die ihm wichtig waren, denen er begegnet ist in den Jahren seiner Kindheit in der Familie eines jüdischen Kunsthändlers, in den Studienjahren in Freiburg und Berlin und von der lebenslangen Freundschaft mit Gershom Scholem. Als Publizist reiste Benjamin nach Moskau, wo er sich der kommunistischen Bewegung näherte. Später treffen wir ihn in Paris, im Exil. Hier diskutierte er mit Hannah Arendt. Hier arbeitete er an dem Passagen-Werk, das letztlich ein Fragment bleiben musste. 1940 dann die Flucht vor der Gefahr, nach Deutschland ausgeliefert zu werden. Und das rätselhafte Ende in Portbou.

So der Lebensweg dieses außergewöhnlichen Schriftstellers und Philosophen, dessen Werk ihn zu einem der einflussreichsten Autoren des zwanzigsten Jahrhunderts gemacht hat. Auch und vielleicht deshalb, weil es das Werk eines Unvollendeten war und ist. Benjamins ästhetischen, religiösen und politischen Entscheidungen in seinem kurzen Leben werden von Jäger gedeutet. Wobei sich zeigt, dass sich die Hoffnungen des Philosophen auf einen Wandel der Gesellschaft als Illusion erweisen sollten. Und Benjamins Bemühungen um das Selbstverständnis seiner Jüdischkeit ebenso wie um das Judentum überhaupt sind ein stetes und nahezu aussichtsloses Ringen.

In einer seiner frühen Schriften, dem Text Zur Kritik der Gewalt (1921) begibt sich Walter Benjamin auf eine metaphysische Suche nach dem Unbedingten. Das Schlüsselwort lautet „Vernichtung“. „Nun ist das Schlüsselwort des Zeitalters gefallen. Das Verhängnis kann beginnen.“ Eine fast prophetische Aussage.

Die Selbstversuche mit Drogen, seine Reflexionen darüber führten zu einem brillanten Essay über Die künstlichen Paradiese von Charles Baudelaire. Lorenz Jäger: Im Gegensatz zu Baudelaire blieben „Haschisch und Meskalin für den einsamen Walter Benjamin intellektuelle Spiele … immer mit der Theoriebildung verzahnt, aber ohne wirkliche Distanz“.

Seine Beziehung zu den drei Frauen seines Lebens, zu Julia Cohn, Dora Kellner, Anja Lacis waren nicht nur Liebesbeziehungen im herkömmlichen Sinne. Sie hatten auch Einfluss auf seine Philosophie. So schrieb Benjamin selbst: „Ich habe drei verschiedene Frauen im Leben kennen gelernt und drei verschiedene Männer in mir. Meine Lebensgeschichte schreiben, hieße Aufbau und Verfall dieser drei Männer darstellen und den Kompromiss zwischen ihnen.“.

Vor allem in seinen Büchern, Aufsätzen und Texten spiegelt sich die intellektuelle Biographie des Walter Benjamin wider. Angefangen von Berliner Kindheit um 1900, im Passagen-Werk: Paris, die Hauptstadt des 19. Jahrhunderts, das eine an Marx orientierte Ökonomie postuliert; in seinem Aufsatz über das Kunstwerk im Zeitalter technischer Reproduzierbarkeit sowie im Thesenartikel Über den Begriff der Geschichte mit dem Engel der Geschichte. Paul Klees Bild Angelus novus hatte Walter Benjamin 1921 erworben. Dieses Blatt, dieser „Engel“ hat den Philosophen 20 Jahre lang begleitet - bis ins Exil. Er hat sein Denken geprägt und ihn zu einem seiner berühmtesten Texte inspiriert.

In diesem Text formuliert Benjamin die These, dass es eine bleibende Schwierigkeit sei, das einst Gewesene zu erfassen. „Das wahre Bild der Vergangenheit huscht vorbei.“ Wenn die Menschen allerdings nicht erfassen, dass sie im Vergangenen „gemeint“ sein könnten, entschwindet das Bild auf unwiederbringliche Weise.

Dass das Bild von Walter Benjamin nicht vorbeihuscht oder auf unwiederbringliche verschwindet - dafür sorgt die intellektuelle Biographie Walter Benjamin - Das Leben eines Unvollendeten. Eine Biographie, die mit profundem Wissen und großer Empathie geschrieben wurde. Es gelingt Lorenz Jäger auf hervorragende Weise, die Komplexität Benjamin‘schen Denkens nachvollziehbar zu machen. Der Biograph hat uns den phänomenalen Denker näher gebracht.

Lorenz Jägers Biographie ist zum 125. Geburtstag des Walter Benjamin erschienen. Ebenfalls aus diesem Anlass findet am 11. Juli 2017, 19:30 Uhr, in der Lengfeld’schen Buchhandlung (in Zusammenarbeit mit dem Kulturamt der Stadt Köln) eine Lesung aus dem Band Träume statt. Daniel Werner wird Texte aus diesem Band lesen: Traumberichte und Reflexionen Walter Benjamins, die bislang wenig Beachtung gefunden haben, aber für Benjamins Schreiben und Denken von zentraler Bedeutung sind.

© Günter Nawe

Lorenz Jäger, Walter Benjamin: Das Leben eines Unvollendeten. Rowohlt Verlag, 400 S., 26,95 €

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