Buchtipp vom

Julian Barnes

Der Mann im roten Rock

Wir danken Andreas Platthaus für die Erlaubnis, seine Rezension aus der Frankfurter Allgmeinen Zeitung sozusagen als "Einstand" für unsere überarbeitete Webseite hier zu veröffentlichen! Gleichzeitig ist dies eine besondere Empfehlung von Frau Laaff, die Ihnen allen dieses Buch ganz besonders ans Herz legen möchte:

Als Julian Barnes sein Buch „The Man in the Red Coat“ veröffentlichte, wurde es von der britischen Presse als große Liebeserklärung an den Austausch zwischen England und dem Kontinent gefeiert. Das ist es und doch noch so viel mehr: das meisterhaft recherchierte und geschriebene Porträt eines Intellektuellen des Fin de Siècle und mindestens drei Kulturgeschichten jener Epoche in einem – eine ihres Porträts, eine ihrer Medizin und eine ihrer Attentate. Und heute, nur wenige Monate später, müsste man auch noch sagen: ein Antidot zur Isolation. Denn Barnes bringt uns ins Gespräch mit einer ganzen Gruppe überwiegend französischer Intellektueller aus der Belle Époque. Oder besser formuliert: Er lässt uns teilhaben an deren Leben. Darunter sind heute noch berühmte Namen wie die Schauspielerin Sarah Bernhardt, der Komponist Gabriel Fauré, der Maler Claude Monet, die Schriftstellerinnen Colette und George Sand sowie deren Kollegen Guy de Maupassant, Marcel Proust, Edmond de Goncourt, Leon Daudet oder Joris-Karl Huysmans. Nicht alle waren persönlich miteinander bekannt, aber sie werden von Barnes zu einer Konstellation arrangiert, in deren Mittelpunkt ein Mann steht, den heute kaum mehr jemand kennt, der aber alle kannte: Samuel Jean Pozzi.

Dieser ehedem höchst erfolgreiche französische Mediziner lebte von 1846 bis 1918, und zwei Überlieferungen haben ihn für Barnes besonders interessant gemacht. Eine ist der Satz „Chauvinismus ist eine Form der Ignoranz“, den der ebenso polyglotte wie weitgereiste Pozzi geäußert hat (Barnes zitiert ihn gleich vier Mal), die andere ist ein Zeugnis seines Aussehens, das der amerikanische High-Society-Maler John Singer Sargent angefertigt hat. Er porträtierte Pozzi im Jahr 1881 in Lebensgröße und häuslicher Umgebung, gekleidet in einen knallroten Hausrock von einer Farbintensität, wie sie seit Veronese nicht mehr gemalt worden war. Dieses heute von der Hammer Collection in Los Angeles aufbewahrte Bild trägt den Titel „Dr. Pozzi at Home“, aber Barnes würdigte das eigentlich Unvergessliche daran, als er sein Buch „The Man in the Red Coat“ nannte. Das Gemälde wird zum Mittelpunkt seiner ganzen Deutung des Gesellschaftsphänomens Pozzi.

Derartige Opulenz verpflichtet, und so ist das ganze Buch reich illustriert, nämlich in guter Druckqualität bestückt mit weiteren Gemälden, aber auch Fotos, die den Protagonisten ihr historisches Gesicht verleihen. Obwohl der Erzählstil von Barnes denkbar anschaulich ist, hat er selbst diese Mischform gewählt und zu dem Bilderbuch aus dem eigenen Archiv zeitgenössische Sammelbilder einer französischen Schokoladenmarke beigesteuert, in deren Auswahl sich die damalige Prominenz der Beteiligten erweist. Und zudem zeigt, wie anders das Verständnis von Prominenz seinerzeit war: Zu den Serien gehörten nämlich nebeneinander die Porträts berühmter Politiker, Künstler, Dichter und auch Mediziner. Pozzi kam gleich zweimal zu Schokoladen-Ehren.

Julian Barnes gehört zu den kunstsinnigsten lebenden Schriftstellern; erst kürzlich legte ein ganzer Essayband – „Kunst sehen“ – davon Zeugnis ab. Und er hat Romane geschrieben, die ganz nebenbei auch große ästhetisch-biographische Auseinandersetzungen bieten: in „Flauberts Papagei“ (1984) mit seinem französischen Lieblingsautor, in „Der Lärm der Zeit“ (2016) mit dem russischen Komponisten Dmitri Schostakowitsch.

Pozzi indes war kein Künstler (oder als Gynäkologe nur in einem Metier, das sich in größtmöglicher öffentlicher Unsichtbarkeit abspielt). Trotzdem ist „The Man in the Red Coat“ wieder ein Buch über Kunst, allerdings diesmal kein Roman, sondern eine Studie. Man ist versucht zu sagen „in Scharlachrot“, denn auch Arthur Conan Doyle spielt darin eine Nebenrolle, und noch mehr, als man das bei einem Mediziner, der im Ersten Weltkrieg auf französischer Seite eine führende Rolle bei der Verwundetenversorgung spielte, geht es im Buch ums Blutvergießen. Barnes legt eine buchstäblich blutrote Linie durch seine Geschichte, doch wer um Pozzis Biographie nichts weiß, wird sie missachten. Aber dann eine der verblüffendsten Wendungen der Literaturgeschichte beschert bekommen. Nur dass hier das Leben die Geschichte schrieb.

Während der Lektüre wartet man auf anderes, und Barnes weiß das nur zu genau. Vier Fünftel des Umfangs sind absolviert, da fällt der lapidare Satz „And then there was Proust“. Bislang umkreiste der Text diesen Mann, führte etliche seiner engsten Weggenossen an, aber sprach selbst nie über ihn. Und nun kommt eine hinreißende Lektüre seines Werks, wie es überhaupt immer wieder Abschweifungen in „The Man in the Red Coat“ gibt, die als eigenständige Essays bestehen könnten.

Alles beginnt mit einer Einkaufsreise nach London im Jahr 1885, die Pozzi als Ästheten zeigt, und schon auf der zweiten Seite findet sich der Satz „Kunst hat immer die Zeit auf ihrer Seite“. Doch nichts erweist sich auf den folgenden 270 Seiten als so vergänglich, gerade im Zeitalter der Décadence, und später im Buch blickt Barnes noch einmal zurück: „Was ich zu Beginn gesagt habe – dass Kunst immer die Zeit auf ihrer Seite habe –, war eine bloße Hoffnung, eine sentimentale Täuschung. Es gibt Kunst, die die Zeit auf ihrer Seite hat, aber welche? Die Zeit übt eine brutale Triage aus.“ Seit ein paar Wochen muss man niemandem mehr erklären, was der militärische Fachbegriff bedeutet.

Dem Buch ist eine tiefe Trauer eingeschrieben: über den Verlust eines Europas, dessen geistige und wirtschaftliche Oberschichten im steten Austausch miteinander standen und beliebig reisen konnten, Pozzi etwa auch nach Bayreuth, oder Venedig – „Pozzi war überall“, begeistert sich Barnes. Sozialkritik an der Vergangenheit ist seine Sache nicht. Aber man lebt und liebt und liest mit diesem Samuel Pozzi und verliert sich an ihn. Was kann Literatur Größeres leisten, als uns wider allen Wissens und Gewissens in einen Bann zu schlagen, aus dem erst mit dem Zuklappen des Buchs Entkommen möglich ist?

Wer „The Man in the Red Coat“ auf Deutsch lesen will, muss sich noch gedulden: Im kommenden Januar wird die Übersetzung bei Kiepenheuer & Witsch erscheinen, pünktlich zu Julian Barnes’ fünfundsiebzigstem Geburtstag. Dann sollten wir die Isolation wieder verlassen haben, aber das Buch wird bleiben, was es ist: ein unvergessliches Lese- und Schauerlebnis.

© Andreas Platthaus

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Verlag Kiepenheuer & Witsch
304 S., 24,- €

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