Buchtipp vom

Angela Steidele, "Rosenstengel"

Das Waisenkind und der Märchenkönig: Ein höchst gefährliches Doppel-Leben

Eine Frau in Männerkleidern, ein schwuler König und ein junger Psychiater und Nervenarzt, dessen Forschungsgebiet die „sexuelle Conträr-Orientierung" ist. Sie sind die Protagonisten in dem spannenden, ja faszinierenden Briefroman „Rosenstengel – ein Manuskript aus dem Umfeld Ludwigs II.", den Angela Steidele zu einem großartigen literarischen Ereignis gemacht hat.

Eigentlich sind es zwei Briefromane, die sich im Text farblich voneinander unterscheiden und so dem Leser die Möglichkeit geben, jeden dieser Romane allein zu lesen. Aber das sollte er möglichst nicht tun, denn beide Geschichten, die der Catharina Margaretha Linck alias Anastasius Lagrantius Rosenstengel und die des schwulen Ludwigs II., der durch seine Bauwut Schulden über Schulden anhäuft, in politische Händel und Intrigen gerät und auch sonst wohl nicht ganz „bei Sinnen" ist, hängen miteinander zusammen. Bindeglied ist der Irrenarzt Dr. Müller, der sich mit der Thematik weibliche Homosexualität und ihrer kaum erforschten Geschichte befasst, das Vertrauen des schwärmerischen Königs gewinnt, ihm von Catharina Linck erzählt und so beide Erzählstränge miteinander verbindet.

Und was für Geschichten sind das. Das abenteuerliche Leben der Catharina Linck begann 1687 als Waisenkind in Halle. Allerdings hat sie später kaum unter diesem Namen gelebt, sondern als Anastasius Lagrantius Rosenstengel. Das arme Kind erfindet sich später immer wieder neu, ändert mehrfach seine geschlechtliche Identität; er wird Soldat, konvertiert als Katholik(in) zum Luthertum – und wahrscheinlich wieder zurück, wird zum Propheten pietistischer Lehren; Linck/Rosenstengel heiratet und vollzieht die Ehe mittels einer ledernen Wurst. Sie nutzt die männlichen Privilegien der Zeit, die Freiheiten, die ihr als Mann geboten sind. Sie leidet unter ihrem Sosein, flüchtet sich in andere Leben und in religiöse Trancezustände. Und ist also Catharina und Rosenstengel in einer Person. Als solche findet sie/er 1722 in Halberstadt den Tod durch den Strang.

Eine tragische Geschichte eines Lebens einer Frau auf der Suche nach ihrer Geschlechtsidentität, ein Verwirrspiel, ein brillantes Täuschungsmanöver, in dem Justiz, Gesellschaft, Religion und Medizin mit ihrem Unverständnis fast vorgeführt werden. Man lese die Briefe von Christian Thomasius, von Anna Magdalena Francke, der Radikalpietistin, und ihres Mannes August Hermann Francke, Theologe, Pädagoge und Pietist. Oder die Korrespondenz der Ärzte aus dem Umkreis von Ludwig II. und vieler anderer. Und es gibt weitere Korrespondenzpartner, die insgesamt ein ausgezeichnetes Bild einer Zeit zeigen - mit gesellschaftspolitischen und sozialen Verwerfungen, religiösen „Erneuerungen", psychiatrisch-medizinischen Problematiken – vor allem in Hinblick auf die Sexualität schlechthin und die weibliche Homosexualität im besonderen - mit politischen Händeln und persönlichen Tragödien.

Die in diesem Buch dokumentierten Unterlagen, die der schon genannte Nervenarzt Dr. Franz Carl Müller dort hinterlegt hatte, fand Angela Steidele bei der Recherche zu einem anderen Buch im Historischen Archiv der Stadt Köln (bevor es einstürzte). „Als ich begriffen hatte", so Angela Steidele, „dass Müller ein Scharnier darstellt zwischen zwei historischen Persönlichkeiten, die ihr Leben buchstäblich erfunden haben, die ihr Leben als Bühne betrachtet haben, beide homosexuell waren und wegen unbotmäßigen Liebens sterben mussten, war die Idee zum Roman geboren." Ein Roman also, der aber immerhin aus 70 Prozent Fakten und 30 Prozent Erfindung und Montage besteht.

Der Leser wird sich vielleicht am Anfang etwas schwer tun, denn Angela Steidele „erzählt" die Briefe im Ton und in der Diktion der Zeit, also des 18. Jahrhunderts – zumindest, was die „Biografie" des merkwürdigen Weibes Anastasius Rosenstengel betrifft. Aber die Mühe lohnt sich, und der Gewinn ist groß.

So liest man – als ein Beispiel: von einer „glücklichen Occasion", dass „drey Musketiere entwichen, so bey Antwerpen wieder gefangen und zurücke gebracht. Weillen die Fahnenflucht ohne Unterscheid durch den Tod mit dem Strange zu bestraffen... Nachdem der Hencker den ersten kürtzlich abgefertigt, bat der zweyte Haluncke, ein junger Milchbart, mit dem Prediger noch reden zu dürffen". Dieser „zweyte Haluncke" war zweifellos Rosenstengel.

Von Catharina Linck / Anastasius Rosenstengel zu Ludwig II.. Der Sprung ist nicht sehr groß, wenn auch etwa ein Jahrhundert dazwischen liegt. Ludwig II. sucht für seinen geisteskranken Bruder einen, den besten Irrenarzt. Über den Chef der Irrenanstalt, in der Otto untergebracht ist, kommt der König an eben den Dr. Müller, dessen Steckenpferd die Geschichte „sexueller Conträr-Orientierung" ist. Aus einer nächtlichen Audienz über das abenteuerliche Leben der Catharina Linck, an der der König sich sehr interessiert zeigt. Bald wird er schreiben: „Lange haben sie mir keine Blätter mehr von der edlen Rosenstengelin gezeigt". Über Kunst und Politik, über das Bauwesen, einer Leidenschaft des Königs und über das Leben schlechthin ging das Gespräch, aus dem sich eine besondere Intimität und ein sehr persönlicher Briefwechsel entwickelte, der von Seiten des Königs höchst schwärmerische Töne annimmt.

Müller tituliert den König „Mein huldreicher König! Theuerster Freund" und der zunehmend verwirrtere König schreibt „Mein geliebtes schönes Wunder! Zum morgigen Tage rufe ich dem Geliebten zu: Heil Dir Sonne, Heil Dir Licht!/ Heil Dir leuchtender Tag..." Wesentlich nüchterner ist die Korrespondenz zwischen den Ärzten um Otto und Ludwig, zwischen Ludwig und seinem Beamtenapparat oder mit Bismarck, den der Märchenkönig um die Übernahme seiner Schulden bittet. Und langsam wird die ganze Sache zu einem veritablen Krimi. Nicht nur die Schulden drücken, die Bauwut nimmt absurde Formen an, in der oberbayrischen Irrenanstalt gibt es sechs Tote, für die Müllers Chef Gudden durch Behandlungsfehler verantwortlich ist. Gudden wiederum betreibt - aus psychiatrischen Gründen – die Absetzung des Königs, dessen tragisches Ende – wie auch immer es dann geschehen ist – bevorsteht.

Verdacht, Intrige, verratene Freundschaften, politische Machenschaften, medizinische und psychiatrische Fehlurteile, religiöser Fanatismus, sexuelle „Conträr-Orientierung" – wie sich die Bilder, die Geschichte der Catharina Linck alias Rosenstengel und des spätromantischen Märchenkönigs, gleichen.

Ein höchst komplexes Werk, das die Wahl-Kölnerin Angela Steidele vorgelegt hat – und ein äußerst spannendes und unterhaltendes. Die Autorin darüber: „In meinen schönsten Träumen liest jemand den Text einmal, nimmt mir alles ab, versinkt hoffentlich in den beiden Geschichten und denkt, unglaublich." Wir erfüllen ihr gern diesen Traum. Und weil dem so ist, ist „Rosenstengel – Ein Manuskript aus dem Umfeld Ludwigs II." unser Buch des Monats.

© Günter Nawe

Angela Steidele, "Rosenstengel – Ein Manuskript aus dem Umfeld Ludwigs II.", Matthes & Seitz Berlin, 383 S., 28,- €

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