Buchtipp vom

Alice Munro: „Zu viel Glück“

Ich wurde erwachsen und alt. Alice Munro erzählt von zu viel Glück
Munro Glück
Alice Munro: „Zu viel Glück“
S. Fischer Verlag
19,95 €

Glück ist eine sehr verletzliche Sache. Und „Zu viel Glück" besonders. So bewegen sich auch die unvergleichlich schönen Erzählungen der kanadischen Schriftstellerin Alice Munro auf einem sehr schmalen Grad zwischen dem, was Glück ist und irgendwann das Gegenteil davon. Nachzuprüfen in dem neuen Buch von Alice Munro: „Zu viel Glück".

Das Zimmermädchen Doree in der Erzählung „Dimensionen" musste es erfahren. Regelmäßig besucht sie ihren Mann in einer psychiatrischen Anstalt ist. Ist es Liebe, die sie zu langen Busfahrten veranlasst oder Fürsorge für ihren Mann...? Plötzlich aber kippt die Geschichte. Ihr Ehemann ist der Mörder ihrer drei gemeinsamen Kinder. Und die Besuche eine beinahe krankhafte psychische Abhängigkeit. Erst als Doree ein junges Unfallopfer wiederbelebt, kann sie sich aus dieser Abhängigkeit befreien.

Alice Munro, sie wird am 10. Juli 80 Jahre alt und regelmäßig als Nobelpreisanwärterin gehandelt, hat die Kunst der Story zu höchster Vollendung getrieben. Sie gilt als die beste Erzählerin weltweit. Dieses Attribut hat sie sich durch viele Erzählungen, viele Bücher erschrieben. Erzählungen, die ín einem oft lakonischen, unauffälligen Duktus daherkommen. Und gerade und ohne Umwege auf den Punkt kommen.

Alice Munro erzählt fast teilnahmslos und ohne zu moralisieren von der jungen Frau, die sich dazu hergibt, einem alten Lustgreis nackt englische Gedichte vorzulesen. Auch diese junge Frau ist wie die vielen Frauen in Munros Erzählungen „auf dem Weg zu Taten, deren sie sich bisher nicht für fähig gehalten hätte".

Die Erzählung „Manche Frauen" beginnt mit dem dem Satz „Es verwundert mich mnachmal, wie alt ich bin". Und sie endet mit dem erstaunlichen Satz: „Ich wurde erwachsen und alt." Zwischen diesen beiden Sätzen erzählt sich die Geschichte auf sehr subtile und psychologisch raffinierte Weise: von der Aushilfspflegerin eines leukämiekranken Mannes und einer Masseurin, die dessen alte Mutter betreut und sich gleichzeitig dem Kranken auf seltsame Weise annähert. Die Munro konzentriert sich auf eine einzelne Episode und erfasst doch gleichzeitig einen ganzen Kosmos menschlicher Befindlichkeiten.

Es sind die Fragen nach der Vergänglichkeit der Zeit, es sind Lebensfragen, die von der Munro - letztlich aber vom Leser beantwortet werden müssen. Und das macht die Stories von Alice Munro so spannende und aufregend.

Nicht ganz glücklich wird der Leser mit der Titelgeschichte „Zu viel Glück". Sie spielt im Gegensatz zu allen anderen Erzählungen nicht in Kanada, sondern in Europa; und nicht im 20., sondern im 19. Jahrhundert. Auch handelt es sich um einen historischen Stoff, um die Geschichte einer russischen Mathematikerin und Schriftstellerin, die als erste Frau eine Professur erhält. Zu viel Glück - an dem sie scheitert. Dieser Erzählung fehlt etwas der typisch Munro'sche Ton und die ihr eigener Fähigkeit zur Verknappung.

Nach dieser kleinen kritischen Einschränkung sieht sich der Rezensent erneut in der angenehmen Pflicht, diese Erzählungen durchweg zu loben - und zu empfehlen. Und das tut er gern.

© Günter Nawe

Alice Munro: „Zu viel Glück“
S. Fischer Verlag, 19,95 €

Alice Munro: „Zu viel Glück“
S. Fischer Verlag, 19,95 €

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